Im Januar 2023 hatte ich Ihnen über das neue Chancen-Aufenthaltsrecht für Ausländer berichtet.
Jetzt, etwa ein halbes Jahr später, berichte ich Ihnen über die Probleme, die wir in der Praxis haben, und was wir tun können:
1. Verfahrensdauer:
bei einigen Ausländerbehörden dauert es sechs Monate oder länger. Sie können bereits drei Monate nach Antragstellung Klage erheben und so Druck aufbauen.
2. Abwimmeln:
die Ausländerbehörde nimmt den Antrag gar nicht erst an und erzählt Ihnen, Ihr Antrag hat keine Aussicht auf Erfolg.
Bestehen Sie auf Ihren Antrag, reichen Sie den Antrag einfach schriftlich oder per Email ein. Es besteht keine Formvorschrift für einen wirksamen Antrag. Auch müssen Sie kein bestimmtes Formular ausfüllen, um einen Antrag zu stellen.
3. Unberechtigte Anforderungen:
wie in unserem vorherigen Video erklärt, sind die Voraussetzungen für die Chancen-Aufenthaltserlaubnis sehr gering. Trotzdem verlangen Ausländerbehörden Unterlagen, die nach dem Gesetz nicht erforderlich sind.
Hierzu zählen zum Beispiel Pass oder Deutschkenntnisse. Sie können solche Anforderungen zurückweisen. Zeigen Sie dem Sachbearbeiter einfach unser Video oder den Gesetzestext von § 104c AufenthG.
4. Erlöschen der Duldung bei Passvorlage:
die Duldung ist Voraussetzung für die Erteilung der Chancen-Aufenthaltserlaubnis. Oft war die Duldung erteilt, weil der Ausländer nicht an der Passbeschaffung mitwirkte, obwohl ihm dies zumutbar wäre.
Bei einigen Ausländerbehörden ist nun Folgendes passiert: Legt der Ausländer in Erwartung des Erhalts der Chancen Aufenthaltserlaubnis seinen Pass vor, hat die Ausländerbehörde die Duldung storniert und die Chancen Aufenthaltserlaubnis abgelehnt, weil ja keine Duldung mehr vorliegt.
Dies ist natürlich falsch. Denn die Duldung könnte nach einer anderen Rechtsgrundlage erteilt werden.
5. BEFRAGUNG zur Freiheitlichen Demokratischen Grundordnung:
Die Chancen-Aufenthaltserlaubnis setzt voraus, dass Sie sich zur Freiheitlichen Demokratischen Grundordnung BEKENNEN.
Die allermeisten Ausländerbehörden haben dafür ein Formular, das Sie unterschreiben und dadurch eine ERKLÄRUNG abgeben.
Die Ausländerbehörde Gelsenkirchen macht daraus aber einen TEST mit 19 Fragen und jeweils vier möglichen Antworten, zwischen denen Sie wählen sollen.
Dieses Vorgehen ist in mehrerlei Hinsicht problematisch und widerspricht dem Gesetz:
Der TEST ist nicht vom Gesetzeswortlaut gedeckt. Die Ausländerbehörde begründet ihr vorgehen damit, dass sie sichergehen möchte, dass das Bekenntnis ernsthaft gemeint ist und dass Sie verstehen, worüber Sie Ihre Erklärung abgeben.
Das ist willkürlich und frei erfunden. Wer sagt denn, wie viele Fragen ich richtig beantworten muss?
Und an anderer Stelle im Gesetz, nämlich bei der Einbürgerung, wird neben einem BEKENNTNIS eben auch die Absolvierung eines Test verlangt.
Steht das wie bei der Chancen-Aufenthaltserlaubnis nicht AUSDRÜCKLICH im Gesetz, kann man es nicht durch die Hintertür einführen.
Auch ist die Art der Durchführung des Tests problematisch. Sie steigert die Wahrscheinlichkeit, dass Sie den Test nicht bestehen. Denn die Fragen liegen nur auf Deutsch vor. Deutschkenntnisse sind aber keine Voraussetzung für die Chancen-Aufenthaltserlaubnis.
Sie können sich also eines Übersetzers bedienen. Es handelt sich aber um viele Fachbegriffe, da sind Missverständnisse vorprogrammiert, zumal der Test unter Zeitdruck durchgeführt wird.
Dies war ein schönes Beispiel für die Kreativität einer Ausländerbehörde.
Kommen wir nun zum Höhepunkt:
6. ERMITTLUNGSVERFAHREN wegen Passlosigkeit:
eine allgemeine Voraussetzung für die Erteilung oder Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis ist, dass gegen Sie kein Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft läuft.
Erst nach Abschluss des Ermittlungsverfahrens darf die Ausländerbehörde über Ihren Antrag entscheiden. Das gilt auch für die Chancen-Aufenthaltserlaubnis
Nun ist in einigen Kommunen – im Süden unserer Republik – die Staatsanwaltschaft überraschend aktiv geworden und hat Ermittlungsverfahren gegen Ausländer eröffnet, die die Chancen-Aufenthaltserlaubnis beantragt haben.
Vermutlich hatte die Ausländerbehörde einfach Strafanzeige erstattet, wenn der Ausländer die Chancen-Aufenthaltserlaubnis beantragte.
Der Vorwurf: Aufenthalt in Deutschland, ohne einen Pass oder Passersatz zu besitzen oder sich um die Beschaffung zu kümmern. Dies kann nach dem Gesetz strafbar sein.
Das Problem daran: Solche Ermittlungsverfahren können viele Monate lang dauern, und der Ausgang ist ungewiss. Somit gerät das chancen-Aufenthaltsrecht, das eigentlich eine einfache und schnelle Lösung bieten soll, in weite Ferne.
Der typische Personenkreis für die Chancen-Aufenthaltserlaubnis, nämlich der Passlose, ist praktisch ausgeschlossen. Dadurch wird der Sinn des Gesetzes, dem Ausländer eine Brücke in den legalen Aufenthalt zu bauen und ihn zu integrieren, ausgehebelt.
Ich möchte klarstellen: natürlich muss ein Beamter rechtmäßig handeln und die Staatsanwaltschaft bei Verdacht auf Straftat informieren. Aber dass dies gerade in dem Moment geschieht, wenn sich der Ausländer auf sein Recht beruft, erscheint nicht verhältnismäßig.
Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer, vielen Dank, dass Sie eingeschaltet haben. Falls Sie Fragen haben, kontaktieren Sie uns gerne. Ich würde mich freuen, Sie hier bald wieder begrüßen zu dürfen, Ihr Rechtsanwalt Simon Sonnenberg